März 2004
Tot sein heißt unbehelligt sein. Emma: neunzigjährig verstorben, die Gliedmaßen verkrümmt, die Haut wie ein Karnevalskostüm um Oberarme und Schenkel, der geöffnete Brustkorb ein Klappschrank mit Vorräten, ein Schrein, eine Assemblage, Fett und Gewebesubstanzen, krümelig oder seifig. Und Emmas Farben. Gelb, Umbra, das bräunliche Rosa verblühter Azaleen. Das Blut, das beim Eintritt des Todes in Arterien und Herzkammern stillstand und stockte, hat die Farbe halb ausgeglühter Kohlen.
Das Einwirken auf Emma besteht nur zur Hälfte aus Physik. Zur anderen Hälfte sind die Vokabeln am Werk, die sie bezeichnen, sie festlegen und so in Studentenhirnen einwurzeln – und über dem Ereignis des durchforschten Körpers das stille, all dem ganz enthobene, gelassene Gesicht, das mich paradoxerweise glauben lässt, da sei einmal eine Seele gewesen. Denn wenn sie da war - und nur unter dieser Voraussetzung kann sie ja abwesend sein -, wie kommt es dann, dass ich sie noch zu erkennen meine, nun, da sie nicht mehr dort ist, und wenn sie nicht war, was sehe ich? Die Abwesenheit von Furcht, Schmerz, Bedauern; die Anwesenheit von nichts.
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Unterwegs zu den schweren gelben Mänteln aus Haut, den marmornen Kürbissen der Lungen, den Korallen der Gefäße, den erschlafften Dunkelkuppeln der Diaphragmen; unterwegs, der Mantel zu werden, den man mir über die Schultern hängen, den man öffnen wird über meinem Herzen; unterwegs, Koralle zu sein, umrieselt, umschwiegen von meinem aschefarbenen Blut und besprochen vom Schmuck der Prachtwörter, behangen damit; unterwegs aufzuhören, ein Rätsel zu sein und ein Mantel zu werden, sonnen- oder butterblumengelb, den man aufschlägt, um die rätsellosen Organe durchzublättern; unterwegs, ein Einband zu werden um ein Buch mit Prachtwörtern.
In der Bahn sitzen und wissen, heute wird es schwieriger. Am zudringlichsten sind nicht die Anblicke, sondern die Gerüche. Ich hatte nie ein Problem mit Formalin, aber heute wird es mich würgen. Reines Formalin ist nicht schlimmer als irgendeine andere Methanverbindung, aber in der Anatomie ist es verschnitten.
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Dextra – sinistra; superior – inferior. Richtungen sind wichtig. In der Niere gibt es Pyramiden und Arkaden. Und Böden unter Böden: Mundboden, Beckenboden. Der Körper ist ein Gebäude. Kammern, Vorhöfe, Gewölbe. Der Leib als mehrstöckiges Haus, als Ètagère, auf deren Absätzen die Sätze der einander zugehörigen Teile dargeboten werden, dargestellt. Das Subtrahieren von Gewebe, das Dividieren des Körpers in seine zartesten, dem feinsten Messer noch zugänglichen Teile, alles was hier stattfindet, ist eine einzige Darstellung. Die Darsteller, Studenten wie Lehrkörper, sind stolz auf die Reinheit der Ergebnisse, das Dargestellte ist erhaben. Es gibt das sinistre Inferiore mancher Momente – oder das der Eimer, die neben den stählernen Tischen stehen. Kein Inferno.
In der geheimen Kaverne des Bauchraums einer Entrückten steckt ein Teratom, ein verkapselter, gutartiger Tumor, der manchmal nach Bauchhöhlenschwangerschaften entsteht. Ineinander gerollte Haare und Zähne dort, wo es nicht werden konnte, ein winziges Monstrum, ein monströser Witz über etwas Gescheitertes, einen Lebensversuch.
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Der Körper ein Blutstock, in dem es summt und wächst wie ein lieblicher Fötus, erst Blume, dann Quappe, dann Ross und Reiter, bis es heraustritt aus mir und sich auf mich schwingt. Oder: Es ist das, was am Ende zurückbleibt, verwaist, eine verlassene Puppe, der die Messer ein Auge nach dem anderen öffnen. Augen, die weiter und weiter werden, in denen das Herz erscheint, wie es war zum Zeitpunkt des Stillstands. Auch Erinnerungen an eine letzte Mahlzeit, an Stadtstaub, Rauch, andere Verunreinigungen.
Die Geologie der Anatomie: Schichten aus Restgewebe in einem etwas zu kleinen, zu kurzen gläsernen Sarg, lungengraue, gallengrüne, herzrosa, faserbraune Sedimente in den Farben des Lehrplans.
Meine Anatomie ist eine Beleidigung, ein Kranksein an der Kränkung. Ich bin ein Fremdkörper in der Apsis, Haare und Zähne und zusammengerollt auf nichts weiter, ein Teratom, eine Fehlleitung, die zu nichts führt. So irre ich gescheitert und sinnlos, aber gutartig durch den Saal, auf der Suche nach der Rückseite des Zauberschranks, wohin die Säge der Magier nicht reicht, durch einen Turm aus Wirbeln, Tonwirbeln – die Geräusche der Instrumente und Substanzen, die Gespräche der Studenten, Scherze, Gelächter, vor allem gegen Ende des Kurstages, beim Aufräumen (Organe in die Petrischalen, Schalen zwischen die Fußknöchel der Toten, Abdecken, nein: Zudecken, bis morgen) – , eine Wirbelsäule. Jede der fünf Apsiden des Saals beherbergt eine Region: Kopf, Hals und Stimmapparat – Brustraum und Herz – Abdomen – Fortbewegungsapparat, also Ausgang.
Auf der Heimfahrt schaue ich die Mitfahrenden nicht an.
Mai
Emma war die Einzige, der sie in der Anatomie einen Namen gaben, wahrscheinlich weil ihre unkorrigierbare Seitenlage Entspannung und Schlaf vortäuschte, weil sie in der Starre, in die ihr Körper noch im Leben gefallen war, im Tod lebendig wirkte. Niemand wusste, wie sie wirklich geheißen hatte, das fühlte sich richtig an. Ansonsten: nichts. Was wollte ich da? Nichts scheint nutzbar zu sein, die Eindrücke widerstehen der Verarbeitung.
Nach einem Vorgespräch in seinem Büro führte mich Professor P. durch den Keller, um mir die Präparatensammlung zu zeigen. Plötzlich wurde eine Tür geöffnet und ein Stahltisch glitt auf den Gang. Darauf lag eine Wirbelsäule mit Kopf. Dieser hatte das Gesicht eines Menschen. Später erfuhr ich, dass die Schädelöffnung und das Abtrennen des Gesichts die letzten Stufen der Darstellung sind.
In jenem Augenblick blieb ich ruhig stehen, d.h. ohne zu schwanken oder etwas zu sagen. A. meinte, das Erscheinen des Tischs sei kein Missgeschick seitens P. oder seines Mitarbeiters, sondern ein Test gewesen, oder eine Vorbereitung per Schockbehandlung. Wollte ich etwa bestehen? Wovor und wie, wenn nichts zu vergessen, aber auch nicht zu behandeln ist.
August
Gestern eine Sendung über Houdini verpasst, sah bloß noch den Abspann. Las „Entfesselung“ und dachte Endfesseln. Es klingt so natürlich, dass es das Wort schon geben muss, also nachhaken. Aber was mag es bedeuten, den Prozess, der mit der Schule beginnt, die Gurte der Familie, der Ehe, die immer engere Umschnürung durch den Lebenslauf, verkürzt auf die Daten für den Arbeitgeber? Etwas, von dem man entbunden werden muss, nur tut keiner einem den Gefallen, keiner tut es (einem), es geschieht einem nicht(s), solange man sich nicht selbst entbindet, aus den Endfesseln dreht, reißt, schneidet.
Morgens ein Traum von zwei dicken Polizisten, die mich auf dem Schulklo festnehmen. Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe, bloß, dass das Todesurteil vorliegt. Sie legen mir Handschellen an und führen mich sanft aus dem Gebäude: Sonnenuntergangsfeuerwerk, und einer der beiden sagt: „Sie haben ja noch die halbe Stunde Fahrt ...“