Vancouver Island, 23.08.

Im Greyhound durch den Wald wie durch einen Tunnel. Die Landschaft verbirgt sich hinter der Landschaft. Unter den Wolken scheinen die Berge schwarz und kahl. Nur wo man den Tunnel verlässt und der Baumvorhang längs des Highway aufreißt, sieht man für ein paar Sekunden, dass es der Wald selbst ist, der steinern wirkt durch den dichten Bestand. Steinerner Wald: So hart muss hier ein Aufstieg sein.

 

 


Inside Passage, 24.08.

Beim Aufbruch um halbacht hätte ich eine Sonate in Grau schreiben mögen. Jetzt um Mittag eine in Sonnendur.

Die großen Flachboote, Stahlflöße, erinnern an die gerodeten Hänge, die wir gestern vom Bus aus sahen: Starkäste, aufgerichtet zu Zeltgerippen, und der Boden hellrot von zusammengekehrten, noch blutenden Borken. Wird das maschinell gemacht? Schwer vorstellbar, wie Maschinen in solchen Steillagen arbeiten.

 

Das Reisen als leichteste Daseinsform, weil man eben nicht da bleibt, nicht an einem Punkt. Die Fortbewegung löst das Dasein auf. Statt der Erdenschwere das volle Gewicht zuzugestehen, überlässt man sich der Fliehkraft. Da-Sein wird zu Da-Gewesensein und Dortsein-Werden, wird aufgespalten in der Zentrifuge des Unterwegsseins, geteilt in Soebenvergangenes und Balderwartetes, in nahe Zukünfte, die wiederum wundersam zusammenrücken zu einer leichten, doch konzentrierten Gegenwart, einem Präsenzextrakt.

 

Die Frage nach dem Abtransport der Stämme ist beantwortet. Der Hubschrauber, den wir von der Fähre aus sahen, war groß wie ein Lastwagen und mit zwei horizontal rotierenden Blättern ausgestattet.

 

 

 

Prince Rupert, 25.08.

„Near-miss stories“, lese ich im Kwinitsa Museum, und denke sie mir als Geschichten von fast versäumten Gelegenheiten. Das Gegenteil ist gemeint: Noch mal Glück gehabt, wenn man nämlich vom vorbeifahrenden Zug knapp verfehlt wurde, beim Entgegennehmen einer Nachricht zum Beispiel, die man mit einem langen, y-förmig gegabelten Stock aus dem Käscher fischte, den ein Bahnbediensteter aus dem Wagenfenster hielt, oder wenn man in Erwartung bestellter Katalogwaren zu nahe an die Schienen geraten war.

Die ernsten Gesichter von Sir Rivers Wilson und Charles Melville Hays, zwei der übelsten Helden aus der Gründerzeit der Grand Trunk Pacific Railway: Ganz Knoxville wurde einfach weggesprengt, weil der Ort der Streckenführung im Wege war. Die nicht weniger ernsten Gesichter der Familie Bailey, die die erste Bäckerei von Knoxville betrieb. Mutter Bailey buk in ihrem Zelt in Vickersville, ihr Mann und die beiden Töchter verkauften das Brot in einem winzigen Shop oder direkt an der täglich weiterziehenden Baustelle.

 

 

 

Port Edward, 27.08.

Das „Weiße Wasser“ versteht sich mit dem steinernen Wald. Von der Fähre aus sahen wir reflektierende Abschnitte, die blanker Fels sein konnten oder Schnee – oder Schmelzwasserfälle!

Hier sehen wir die Felsen nass und spiegelnd von schmelzenden Gletschern, sehen der Erderwärmung zu. Weiß ist das Wasser, das sich in lauten Schnellen, den Rapids, ergießt, weiß wie der Schnee, der noch liegt, wie auch der verschwundene Schnee, der den Bergwald verwüstet zurücklässt, weil der Boden vom Schmelzwasser weggewaschen wird, jener Schnee, der, ist er erst vollständig zur Vergangenheit übergelaufen, den Wald zu einem steinernen gemacht haben wird, zu einem Stellvertreterwald aus denselben Felsen, auf denen der frühere wuchs.

 

 

 

Terrace, 28.08.

Die umnebelten, umwölkten Bäume sehen aus, als stünden sie in Brand. Als schwelten sie, steigt es wie weißer Rauch aus ihnen auf. Wasser- und Wolkencamouflage: Die Hügel ziehen mit dem Dunst davon, und der Nebel steht still, zu runden Kuppen geballt, zu wollweißen Schafskruppen.

Und eben fällt mir ein, dass wir das auf der Herfahrt sahen: eine brennende Cannery, und nicht mal 100m von den qualmenden, schwelenden Trümmern des Gebäudes wälzte ein Wasserfall seine weiß dampfende, flache, doch breite Kaskade aus dem Wald, der vom Brand ganz unberührt schien, ungefährdet.

Das Wasser ist mal stumpf, kabbelig, wie gehämmert, dann wieder aalschwarz und glatt, bis man Land zu sehen glaubt, Kiesstrände, die an den Waldsäumen lecken, während die Landzungen wie jene glattdunklen Teile der Wasseroberfläche wirken, die sich als Land ausgeben.

 

 

Wie entstand der Faltenwurf der Landschaft: durch eine Katastrophe, ein gewaltiges Beben, einen Tsunami? Ich will mich nicht zu falschen, langweiligen Annahmen verleiten, nicht denken, zu dieser Schönheit brauchte es eine Katastrophe, will mich nur erinnern an die zu beiden Seiten offene Wandelbarkeit der Dinge. Was einmal schön war, wird hässlich, und das Hässliche von heute, das Schlimme und Erschreckende kann zu Schönheit werden, vergeht genug Zeit.