im Oktober
Catherine Hales: revelation
shadows angle away
the sky invades
wherever you look
there are roofs balconies
awash with it
harsh light pointing up
to perfection the paint
peeling from walls
unswept corners cracks
blemishes unwanted hair
were we to believe
in some deity we´d say
this is all
the evidence we need
of divine revelation
even dogs slacken down araound midday
when nothing else matters
at least we have this
the thrill of inflicting
the wound of silence
Catherine Hales: hazard or fall. Shearsmen Books, Exeter 2010
im September
Farhad Showghi: Fehler im Traum VII
Diesige Ruhe:
kein schnelles Wegklopfen oder Einfügen jetzt, -
von den Knöpfen am Hemd -
hebst du mit dem Daumen
ein Schimmern ab,
während du sagst:
Dieser leichte Vorsprung, - dieser weißliche Spalt,
ist auch als Ferne vorhanden,
mit gewölbtem,
dann fallendem STOFF.
Für eine Gardine? Nein, keine GARDINE,
kein Wehen in DIESER-EINEN-SITUATION,
nur Lichteinfall
mit Sinn für Gefieder -
MATERIE -
Farhad Showghi: Anlegestellen für Helligkeiten. Gedichte. Reihe Lyrik Band 77, kookbooks, Berlin 2021
im August
Charles Simic: Walking
I never run into anyone from the old days.
It's summer and I'm alone in the city.
I enter stores, apartment houses, offices
And find nothing remotely familiar.
The trees in the park - were they always so big?
And the birds so hidden, so quiet?
Where is the bus that passed this way?
Where are the greengrocers and hairdressers,
And that schoolhouse with the red fence?
Miss Harding is probably still at her desk,
Sighing as she grades papers late into the night.
The bummer is, I can't find the street.
All I can do is make another tour of the neighborhood,
Hoping I'll meet someone to show me the way
And a place to sleep, since I've no return ticket
to wherever it is I came from earlier this evening.
Charles Simic: That Little Something. Poems.
Mariner Books, Boston / New York 2009
im Juli
Rainer Maria Rilke: Nachthimmel und Sternenfall
Der Himmel, groß, voll herrlicher Verhaltung,
ein Vorrat Raum, ein Übermaß von Welt.
Und wir, zu ferne für die Ausgestaltung,
zu nahe für die Abkehr hingestellt.
Da fällt ein Stern! Und unser Wunsch an ihn,
bestürzten Aufblicks, dringend angeschlossen:
Was ist begonnen, und was ist verflossen?
Was ist verschuldet? Und was ist verziehn?
Rainer Maria Rilke: Gedichte. Eine Auswahl. Reclam Universalbibliothek, Stuttgart 1959
im Juni
Inge Müller: Stufen
Ich schrieb und schrieb
Das Grün ins
Gras
Mein Weinen
Machte die Erde nicht naß
Mein Lachen
Hat keinen Toten geweckt
In jeder Haut hab ich gesteckt.
Jetzt werd ich nicht mehr schreien -
Daß ich nicht ersticke am Leisesein!
Blanche Kommerell (Hg.): Inge Müller. Ich will alles von der Welt. 4. Aufl.,
Bülbül Verlag Berlin, 2017
im Mai
Robin Fulton: Baum im Frühling
Die Steinhänge leuchten.
Sie haben ihr Alter, ihr Gewicht verloren.
Der Teil von mir, der auf Wasser gehen
kann, könnte zwischen ihren silbrigen
Molekülen leicht hindurchkommen.
Meergehäufter Nebel kann sich nicht rühren.
Er ist durchtränkt vom
Sonnenschein, den er nicht zurückgibt.
Der feine Nebel kann Wunder verhindern -
"Faß mich nicht an, ich bin aus Stein."
Zwischen Fels und Nebel, ein Baum:
noch kahl, doch glühend vor
nicht zu zügelndem Licht.
Der blinde Teil von mir öffnet sich.
Ich betrachte den Baum, bin verwurzelt.
Der gelenkige Baum betrachtet mich
aus vielen Blickwinkeln auf einmal.
Den Teil von mir, der nicht auf Wasser
gehen kann, werden erstaunliche,
undurchsichtige Blätter trösten.
Robin Fulton: Grenzflug. Gedichte. Ausgewählt und übertragen von Margitt Lehbert. Edition Rugerup, Hörby 2008
im April
Kerstin Preiwuß: binnenraum
an der grenze eines raumes bricht die gradlinige bewegung zusammen und läuft dagegen kreisförmig fort
das zimmer, in dem vier wände sind
eine membran zwischen innen und
außen treiben die alten auf ihren straßen den handel
noch zwischen den winden hindurch
bis hoch zur kleinen magellanschen wolke
und weiter immer weiter
zum nächsten gestöber der sterne
dort liegt mein trostgesuch,
mein land
Kerstin Preiwuß: nachricht von neuen sternen. Gedichte
Edition Wörtersee, Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Leipzig 2006
im März
Lioba Happel: schlag licht
schlag licht
zwischen die augen
wenn du hier ein
trittst
stürzt die welt
ab
was aufatmet wird
mit eisigen fingern
gefasst
Lioba Happel: land ohne land. Gedichte. edition pudelundpinscher, Unterschächen 2009
im Februar
Laura Pugno: Es ist nicht mehr kalt, sagst du,
es ist zwar weiß, aber spendet Wärme
die strahlende Stunde, strahlender
immer mehr und mehr,
kaum Bewegung in dem,
was auf der Welt aus sich heraus lebt und so tut,
als wäre es unbekannt
aus dem Italienischen von Tobias Roth
Federico Italiano/Jan Wagner (Hg.): Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas
Carl Hanser Verlag, München 2019
im Januar
Sergej Tenjatnikow: Irrtum
ich dachte mir das nächste Jahrtausend aus.
ich erschuf das neue Menschengeschlecht.
ich wurde zum Urgrund der Dinge.
was soll ich nun
mit diesem Steinchen
im rechten Schuh machen?
Reimer Boy Eilers, Sabine Göttel, Marco Sagurna, Leander Sukov (Hg.):
Die Lyrikkarawane. Sichere Texttransporte - Sichere Gedichte. Kulturmaschinen Verlag, Ochsenfurt 2024