im November
Rainer Maria Rilke: Wir sind nur Mund
Wir sind nur Mund. Wer singt das ferne Herz,
das heil inmitten aller Dinge weilt?
Sein großer Schlag ist in uns eingeteilt
in kleine Schläge. Und sein großer Schmerz
ist, wie sein großer Jubel, uns zu groß.
So reißen wir uns immer wieder los
und sind nur Mund. Aber auf einmal bricht
der große Herzschlag heimlich in uns ein,
so daß wir schrein -
und sind dann Wesen, Wandlung und Gesicht.
Rainer Maria Rilke: Gedichte. Eine Auswahl. Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1968
im Oktober
Zahra Yousri: Leben
Ein gestrandeter Fisch
zappelt um sein Leben
Ich will es ihm nachmachen
bitte mein Herz, kurz innezuhalten
Vielleicht wüchsen mir
Kiemen und Schuppen
oder der Fisch begriffe, dass das Meer nah ist
nur einen Schritt entfernt
deutsch von Leila Chamaa
Ghayath Almadhoun/ Sylvia Geist (Hg.): Kontinentaldrift. Das Arabische Europa, Wunderhorn Verlag / Haus für Poesie, 2023
im September
P. K. Page: The Stenographers
After the brief bivouac of Sunday,
their eyes, in the forced march of Monday to Saturday,
hoist the white flag, flutter in the snow storm of paper,
haul it down and crack in the midsun of temper.
In the pause between the first draft and the carbon
they glimpse the smooth hours when they were children -
the ride in the ice-cart, the ice-man's name,
the end of the route and the long walk home;
remember the sea where floats at high tide
were sea marrows growing on the scatter-green vine
or spools of grey toffee, or wasps' nests on water;
remember the sand and the leaves of the country.
Bell rings and they go and the voice draws their pencil
like a sled across snow; when its runners are frozen
rope snaps and the voice then is pulling no burden
but runs like a dog on the winter of paper.
Their climates are winter and summer - no wind
for the kites of their hearts - no wind for a flight;
a breeze at the most, to tumble them over
and leave them like rubbish - the boy-friends of blood.
In the inch of the noon as they move they are stagnant.
The terrible calm of the noon is their anguish;
the lip of the counter, the shapes of the straws
like icicles breaking their tongues are invaders.
Their beds are their oceans - salt water of weeping
the waves that they know - the tide before sleep;
and fighting to drown they assemble their sheep
in columns and watch them leap desks for their fences
and stare at them with their own mirror-worn faces.
In the felt of the morning the calico minded,
sufficiently starched, insert papers, hit keys,
efficient and sure as their adding machines;
yet they weep in the vault, they are taut as net curtains
stretched upon frames. In their eyes I have seen
the pin men of madness in marathon trim
race around the track of the stadium pupil.
in: The Penguin Book of Canadian Verse. Intrduced and edited by Ralph Gustafson.
Penguin Books, Baltimore 1958
im August
Marie Luise Kaschnitz: Nichts und alles
Nichts scheint so traurig wie das halb Verschonte.
Die Kammern unterm Himmel aufgerissen
und Bett und Wiege, drin die Hoffnung wohnte,
so abgetan wie ärmliche Kulissen
und alle Dinge in des Lichtes Blöße
ein Staub, noch ehe sie zu Staub zerrieben,
und in der Wolken nachbarlicher Größe
das Liebste fremd und unwert es zu lieben.
Wohin entfloh die Zärtlichkeit der Hände,
der Tränen Glanz, die Lust des Augenblicks?
Es geht ein Sturm und nimmt uns vor dem Ende
die schweigenden Gefährten des Geschicks.
Damit wir uns als Flüchtige erkennen
und fürder nichts und alles unser nennen.
in: Twentieth-Century German Verse. Penguin Books, Middlesex 1963
im Juli
Jürgen Becker: Erwartungsland
Grünes Wogen der Kiefern; überall
rauscht die Autobahn. An einem Tag
wirst du nicht weit genug gehen können;
wo einst begann das wilde Gelände.
Oben die Wolken, und lesend
sitzen Leute in der Luft; Vancouver
nebenan, nachmittags Antillen. Hier
eine Bitte um den Erhalt des Fachwerks;
die Bäume wehren sich umsonst.
Joachim Schultz (Hg.): Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet. Farben in der deutschen Lyrik von der Romantik bis zur Gegenwart. dtv, München 1994
im Juni
Sabine Göttel: Im letzten Abteil
am offenen Fenster sitzend
halte ich mir
mit dem Handrücken
die Sonne vom Leib :
Nicht die brennenden Felder,
den entgleisenden Zug.
Sabine Göttel: Fische fluten. Gedichte. W.J. Röhrig Verlag, Sankt Ingbert 1987
im Mai
Sarah Kirsch: Krähengeschwätz
Mein Richtstern ist ein faust-
Großer Planet und mein Kompaß
Liegt auf dem Grund der See
Aber die Hoffnung will tanzen
Nur der Sperber über der Ebene
Liest die Gedanken.
Erde und Menschen sind
Gänzlich verwildert hilft
Kein Besinnen der Klotz
Ist unterwegs im freien Fall
Und ich selbst
Entstamme einer Familie von Wölfen.
Sarah Kirsch: Werke in fünf Bänden, Band 3. dtv, München 2000
im April
Ulrike Bail: AUF LEUCHTMOOS LEGTE ICH
AUF LEUCHTMOOS LEGTE ICH eine fotografie
aus dem archive of modern conflicts
sie zeigt einen mächtigen baum
about 70 yards west of shambles oak
jener eiche die 1913 von erholungssuchenden
in brand gesetzt um eine generation später
endgültig in sich zusammenzubrechen
ich befragte das moos
welchen abstand es brauche
um verschont zu bleiben
ob siebzig mal drei fuß genügten
und in welche richtung
Matthias Kniep / Sonja vom Brocke (Hg): Jahrbuch der Lyrik 2023, Schöffling & Co.
Frankfurt a.M. 2023
im März
Richard Brautigan: Late Starting Dawn
It's a late starting dawn that breathes my vision,
inhales and exhales the sound of waking birds
and pokes ten miles of cold gray sky at a deer
standing alone in a meadow.
Richard Brautigan: Rommel Drives On Deep Into Egypt. Dell Publishing, New York 1973
im Februar
Charles Simic: The Lights Are On Everywhere
The Emperor must not be told night is coming.
His armies are chasing shadows,
Arresting whip-poor-wills and hermits thrushes
And setting towns and villages on fire.
In the capital, they go around confiscating
Clocks and watches, burning heretics
And painting the sunrise above the rooftops
So we can wish each other good morning.
The rooster brought in chains is crowing,
The flowers in the garden have been forced to stay open,
And still yet dark stains spread over the palaces floors
Which no amount of scrubbing will wipe away.
Charles Simic: That Little Something. Poems. Mariner Books, Boston * New York 2009
im Januar
Ahmad Katlesh: Lernen, wie man einander umarmt
Ich kenne einen Mann, der auf Sportplätze geht
in Bars
zu Trauerfeiern
zu Hochzeiten
um zu lernen, wie man einander umarmt
Wir Männer wissen
wie wir Frauen küssen
wie unsere Hände ihre Wünsche entdecken
wie wir in sie eindringen
Doch nach ihrem Beben
oder wenn wir fertig sind
ziehen wir uns zurück
Ich kenne einen Mann
der sich davor fürchtet, allein zu bleiben
Nur weiß er nicht, wie man einander umarmt
Wenn seine Geliebte sich ihm nähert
umarmt er sie von hinten
und zieht eine Wand zu sich heran
um sich anzulehnen
Ahmad Katlesh: Das Gedächtnis der Finger. Gedichte
Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch. Edition Rugerup, Berlin 2020