im Mai
Ilma Rakusa: Rückgrat
Rückgrat denk ich
wer hat noch Rückgrat
in diesen krummen Zeiten
wenn Lügen blühen
wie Päonien
aufgerissenes Maul
viel Schaum etc.
schau: der Mond ist nicht
gezinkt der Waldrand
hält die Fresse alles still
normal die Nacht
sie wird dich nicht verlachen
sie hat noch Stil
ein Quäntchen Eleganz
auch wenn es schwärzer wird
wie schwarz? fragst du
als ob es Steigerungen gäbe
von Pech zu Pech
Rückgrat also
du bist kein Falter
kein Windhahn (rechts mal links)
die Nacht steht ihre Frau
sie steht
(es werde Licht)
in: M. Kniep, N. Küchenmeister (Hg.), Jahrbuch der Lyrik 2022
Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 2022
im April
Aleksei Bobrovnikov: Ruhewagen
Ein Ruhewagen
in dem die Stille bricht.
Der Schrei eines Neugeborenen, der Furz eines alten Mannes.
Jedes Abteil voller Nadeln und Wertmarken.
Das diktatorische Gurgeln eines Klos.
Der Zug verwildert, taucht unter die jungen Pinien
pfeift seine alten Wiegenlieder durch die Tunnel.
Fabriken aus Stahl und still wie ein Minenfeld
am Fließband könnte man die Würmer wispern hören.
Ein ruhiger Karren
und eine gebrochene Vereinbarung
Versprechen, erfüllt oder gestoppt per Signal.
Der Mann mit der Mütze, die die Kleinsten so bewundern
schreit einen an, der ganz vorn in der Schlange steht:
„Hören Sie auf, das zu filmen!“
aber die Farben sind zu stark.
Was nicht zerbrochen ist, zermahlt die Ferne
auf der grauen Schaufel der Windmühle Zeit.
unveröffentlicht
deutsch von Sylvia Geist
im März
Olga Martynova: In der Zugluft Europas
Seltsam zu leben in der Zugluft Europas.
Überall undichte Stellen, die niemand mehr flickt.
Vierblättriger Wind spielt
Mit dem Tau nutzloser Träume.
Rissig der Halm - die Achse der Winde.
Die Karte nimmt alles hin
(Als wäre sie ohne Empfindung),
Ein Flickenmantel, an den Nähten zerrissen,
Und niemanden schert, was nackt darunter hervorblitzt
(Als wäre Europa, kurz vor dem Ende,
Gefallen ins verlorene Paradies.
Ein verwahrloster Garten, was sonst, mit zertrampelten Wiesen,
Die Blumen alle vertrocknet,
Nur Wind noch, nur fliegender Sand
Und Seufzer von uralten Ofenbänken ...)
... nicht durchzuhalten in dieser Zugluft
das epische Weiter und Weiter ...
nachgedichtet von Sabine Küchler
in: Leb wohl, lila Sommer. Gedichte aus Russland. Wunderhorn, Heidelberg 2004
im Februar
Ulrike Almut Sandig: so habe ich sagen gehört
hab sagen gehört, es gäb einen Ort
für alle verschwundenen Dinge, wie
die verschiedenen Sorten von Äpfeln
die Clowns und die Götter, darunter
auch jenen guten Gott von Manhattan
Karl-Marx-Stadt und Konstantinopel
Benares und Bombay und die Namen
von zu vielen Braunkohledörfern
befänden sich, hab ich sagen gehört
in der Mitte des Weißtannenwalds
der jede Schallwelle schluckt. der Ort
wär, so habe ich sagen gehört
auf keiner gültigen Karte verzeichnet.
Ulrike Almut Sandig: Dickicht. Schöffling & Co, Frankfurt a.M. 2011
im Januar
Björn Kuhligk: Nachdem wir den Baum schlugen
Nun ist die Erde zu taub, um Zäune
zu ziehen, wäre sie aufgeworfen
dampfte sie, eine Herde im Freilandgehege
wir gehen durch den Neuschneegarten
die Fährte, die wir hinterlassen, ist
schmal wie die stumpfe Seite einer Axt
Björn Kuhligk: Die Stille zwischen null und eins. Gedichte. Hanser Berlin 2013