im April
Olga Martynova: Die Tragödie
Der Chor geht nach links-links, dann nach rechts-rechts.
Ah, denkt doch nur, spricht er, was nicht alles passiert,
Die Bösewichter ereilt ihre Strafe,
Aber sie, das arme Ding, tut uns leid, was hat er sich bloß gedacht,
Von nun an hat er nicht Glück noch Ruh.
Der Chor geht nach rechts-rechts, dann nach links-links,
Das ganze Leben wird in den Kokon aus monotonem Getöse verbracht.
Er hat gar nichts verstanden, der Chor, das Meer leckt die Stapfen, die sein Singsang tritt, auf,
Gleicht sich an seinem Gang, denkt auch ans Eigene,
Jeder hat ja genug zu schaffen, mit Gutem wie mit Schlechtem.
Der Chor tröstet, bemitleidet, nicht, daß er heuchelt,
Aber wie sonst käme er mit seinen Sorgen zurecht,
Ein Schatten auf Filzlatschen-Skiern gleitet um die Museumstür,
Sachlich wie eine Fliege, es riecht nach dunkler Zypresse,
Erwärmt von der Sonnenglut, nach dem ätzenden Schweiß des Boten.
Olga Martynova: Brief an die Zypressen. Gedichte.
Übersetzung aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova
Rimbaud, Aachen 2001
im März
Dieter M. Gräf: Der tote Vogel
du hast diesen toten Vogel in die Hände genommen
_________
deine Hände, nah
wie der Tod, denn ich sehe dich zweifach &
mich: als den toten Vogel, als den, der dir schreibt.
Ein-aus: verrückt sein vor Atem
bist jetzt so zart
Wohin vergräbst du an anderen Tagen deine Güte?
Wer, wenn nicht du, bist die Beschützerin der Welt?
_________
du bist so kostbar wie alle aufgerissenen Fenster
zusammen, wie die ganze Luft
du fehlst mir so sehr
Dieter M. Gräf: Falsches Rot. Gedichte und Fotos. Brüterich Press, Berlin 2018
im Februar
Karin Fellner: Federung, komplementär
Wenn eins sich verliert ins Driften, über den Block und weg,
steht´s andere vielgliedrig im Alltagssturm, hält fest.
Wird´s andere k-fach knotig, knurrt und verkrallt,
streicht eins alle Zollstationen aus dem nächtlichen Wald.
Entfernen eins und´s andere sich voneinander, zieht
etwas hin, zu, zurück an jedem disjunkten Weg.
Sagen eins und´s andere zugleich: "Du bist mein Ko."
(ergänze: -sen, -libri, -bold.)
Karin Fellner: eins: zum andern. Gedichte. parasitenpresse, Köln 2019
im Januar
Gioconda Belli: Relativitätsgeheimnis
Manchmal erwache ich
und denke, das Geheimnis des Traums
wohnt hinter der angelehnten Tür
Seite an Seite mit der Unordnung des Zimmers
in dem der Morgen vergeht.
Ich bewege mich langsam vor den reglosen Möbeln
und warte auf die seltsamen Frauen mit den wechselnden Gesichtern
das Geräusch ihrer schleppenden Kleider
die langen Schatten der Männer in den spiegelnden Scheiben.
Fast höre ich die gelehrten Gespräche rings um den Tisch
spüre den fahlen Schein der Kerzen.
Ich zwinge mich zur Arbeit
verweigere die Wahrnehmung des anderen Universums das mich streift.
Wenn ich nur ein wenig die Tür öffne
läßt mich der Geruch der Fasane
die Angst vor der unmöglichen Realität der relativen Räume
sie heftig wieder schließen
mit der Panik des Wissenschaftlers vor einem schwarzen Loch.
Da ziehe ich es vor in den Lärm der Frühstücksteller zu fliehen
und vorsichtig die großen Zimmer
zu versiegeln
in denen andere Zeiten
foppend
verstreichen.
Gioconda Belli: In der Farbe des Morgens. Gedichte
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1992