im Juli

Sarah Kirsch: Der Milan

 

Donner. Die roten Flammen

Machen viel Schönheit. Die nadligen Bäume

Fliegen am ganzen Körper. Ein wüster Vogel

Ausgebreitet im Wind und noch arglos

Segelt in den Lüften. Hat er dich

Im südlichen Auge, im nördlichen mich?

Wie wir zerrissen sind, und ganz

Nur in des Vogels Kopf. Warum

Bin ich dein Diener nicht ich könnte

Dann bei dir sein. In diesem elektrischen Sommer

Denkt keiner an sich und die Sonne

In tausend Spiegeln ist ein furchtbarer Anblick allein.

 

 

Gisela Linder (Hg.): Rot - Farbe der Liebe. Insel, Frankfurt a.M. 2003

 

 

im Juni

P. K. Page: Elements

 

Feeling my face has the terrible shine of fish

caught and swung on a line under the sun

I am frightened held in the light that people make

and sink in darkness freed and whole again

as fish returned by dream into the stream.

 

Oh, running water is not rough: ruffled to eye,

to flesh it's flat and smooth; to fish

silken as children's hands in milk.

 

I am not wishful in this dream of immersion.

Mouth becomes full with darkness

and the shine, mottled and pastel, sounds its own note, not

the fake high treble thrown on resounding faces.

 

There are flowers - and this is pretty for the summer -

light on the bed of darkness; there are stones

that glisten and grow slime;

winters that question nothing, are a new

night for passing movements of fine fins;

and quietly, by the reeds or the water fronds

something can cry without discovery.

 

Ah, in daylight the shine is single

as dime flipped or gull on fire or fish

silently hurt - its mouth alive with metal.

 

 

Ralph Gustafson (Hg.): Canadian Verse. Penguin Books, Baltimore 1958

 

 

im Mai

Louise Glück: Vespern

 

Ich frage mich nicht mehr, wo du bist.

Du bist im Garten, du bist, wo John ist,

im Dreck, geistesabwesend, seine grüne Kelle in der Hand.

So gärtnert er: fünfzehn Minuten heftiger Anstrengung,

fünfzehn Minuten verzückten Innehaltens. Manchmal

arbeite ich neben ihm, erledige die Schattenpflichten,

Unkraut jäten, die Salate ausdünnen, manchmal sehe ich

von der Veranda beim oberen Garten zu, bis die Dämmerung

die ersten Lilien in Lampen verwandelt: all die Zeit

weicht der Frieden nicht von ihm. Durch mich aber stürzt er,

nicht wie Nahrung, die die Blüte erhält,

sondern wie strahlendes Licht durch den kahlen Baum.

 

 

Louise Glück: Wilde Iris. Gedichte.

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Draesner

Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe

München 2020

 

 

im April

Tom Schulz: Die Erde wird Eigentümer unserer Unternehmen

 

Die Erde wird Eigentümer unserer Unternehmen.

Was wir aus ihr holen, was wir anbauen, opfern

wir nicht länger den Göttern. Konzerne sind keine

Sterne, Gewinnzonen verrinnen. Einmal wollen 

wir alle auch arm sein, keinen Zehnten geben.

Teilhabe von Biene und Wabe, Wachs - und die

Königin? Wer tauscht die Anteile ein, wer pumpt

das Abgeschöpfte zurück? Spricht ein Mensch.

Kauft Zahnbürsten aus Bambus, spendet der Erde

eine Gießkanne voll Wasser. Wie weiter?

Noch ein Gedicht, das nicht staunt wie ein Kind.

Wir gehören Bruchsteinen, Wasser, dem Wind.

Schon ziehen Geckos ein in den Saal mit den Meister-

Werken. Eine Schaufel Sand, um uns zu krönen.

Und die Tiere erreichen die Supermarkt-Arche.

 

 

Tom Schulz: Die Erde hebt uns auf. Gedichte. poetenladen, Leipzig 2024

 

 

im März

Mazen Maarouf: Klimahypothese

 

Stell dir mal vor

ein Kind

und wo es zu Ende geht, noch ein Kind

dahinter ein Kind

daneben ein weiteres Kind

davor ein Kind

und immer so weiter, überall Kinder

Stell dir vor

die stünden alle da

und klapperten mit den Knochen ihrer dürren Finger

alle gleichzeitig

würde sich das nicht

wie Regen anhören?

 

deutsch von Sandra Hetzl

 

in: G. Almadhoun/S. Geist (Hg.), Kontinentaldrift. Das Arabische Europa

Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2023

 

 

im Februar

Joanne Burns: abhängigkeitstag

 

der kunstrasen wellt sich, wirft blasen auf den

hollywood hills, die wälder der welt mutieren zur

halde, keine büsche mehr da, die man anzünden

könnte, um die gierigen götter des feuers zu

symbolisieren, religionen von gestern, gealtert,

mit donuts und bissen von fettigen burgern,

ihre kräfte vergeudet in mickrigen fürzen,

milliarden von augen schauen zum himmel, um

ihn zu lesen: riesige feuerwolken blähen sich

auf wie gewaltige wunder, ein fest am ende

aller tage, das fremde raumschiff ist

fast schon gelandet

 

                              die welt tanzt in ihren

                              wüsten, schluchten, ausgetrockneten
                              straßen, statisten einer

                              massenszene in einem alten film
                              marathon, nostalgie

                              beherrscht die himmel

 

 

deutsch von Ulf Stolterfoth

 

in: Ivor Indyk (Hg.), Hochzeit der Elemente, Dumont, Köln 2004

 

 

im Januar

Arne Rautenberg: in blättern wie flammen

 

großer mensch

kopflos stehend auf zwei beinen

im morast

 

von oben umstrahlt von unten umwittert

es gibt sehr vieles da draußen

das nicht gesicht ist

 

großer mensch

der du innen hohl

noch wurzeln schlägst

 

dein rumpf wird stamm

deine arme werden äste

deine hände werden zweige

deine finger werden blätter

 

was glaubst du woher das ganze gift kommt?

und was glaubst du wohin es verschwindet?

 

 

Arne Rautenberg: sekundenfrühling. Gedichte. Wunderhorn, Heidelberg 2023