im Juni

Sabine Göttel: Im letzten Abteil

 

am offenen Fenster sitzend

halte ich mir 

mit dem Handrücken

die Sonne vom Leib :

Nicht die brennenden Felder,

den entgleisenden Zug.

 

Sabine Göttel: Fische fluten. Gedichte. W.J. Röhrig Verlag, Sankt Ingbert 1987

 

 

im Mai

Sarah Kirsch: Krähengeschwätz

 

Mein Richtstern ist ein faust-

Großer Planet und mein Kompaß

Liegt auf dem Grund der See

Aber die Hoffnung will tanzen
Nur der Sperber über der Ebene
Liest die Gedanken.

 

Erde und Menschen sind

Gänzlich verwildert hilft

Kein Besinnen der Klotz

Ist unterwegs im freien Fall
Und ich selbst

Entstamme einer Familie von Wölfen.

 

 

Sarah Kirsch: Werke in fünf Bänden, Band 3. dtv, München 2000

 

 

im April

Ulrike Bail: AUF LEUCHTMOOS LEGTE ICH

 

AUF LEUCHTMOOS LEGTE ICH eine fotografie

aus dem archive of modern conflicts

sie zeigt einen mächtigen baum

about 70 yards west of shambles oak

jener eiche die 1913 von erholungssuchenden

in brand gesetzt um eine generation später

endgültig in sich zusammenzubrechen

 

ich befragte das moos

welchen abstand es brauche

um verschont zu bleiben

ob siebzig mal drei fuß genügten

und in welche richtung

 

 

Matthias Kniep / Sonja vom Brocke (Hg): Jahrbuch der Lyrik 2023, Schöffling & Co.

Frankfurt a.M. 2023

 

 

im März

Richard Brautigan: Late Starting Dawn

 

It's a late starting dawn that breathes my vision,

inhales and exhales the sound of waking birds

and pokes ten miles of cold gray sky at a deer

     standing alone in a meadow.

 

 

Richard Brautigan: Rommel Drives On Deep Into Egypt. Dell Publishing, New York 1973

 

 

im Februar

Charles Simic: The Lights Are On Everywhere

 

The Emperor must not be told night is coming.

His armies are chasing shadows,

Arresting whip-poor-wills and hermits thrushes

And setting towns and villages on fire.

 

In the capital, they go around confiscating

Clocks and watches, burning heretics

And painting the sunrise above the rooftops

So we can wish each other good morning.

 

The rooster brought in chains is crowing,

The flowers in the garden have been forced to stay open,

And still yet dark stains spread over the palaces floors

Which no amount of scrubbing will wipe away.

 

 

Charles Simic: That Little Something. Poems. Mariner Books, Boston * New York 2009

 

 

im Januar

Ahmad Katlesh: Lernen, wie man einander umarmt

 

Ich kenne einen Mann, der auf Sportplätze geht

in Bars

zu Trauerfeiern

zu Hochzeiten

um zu lernen, wie man einander umarmt

 

Wir Männer wissen

wie wir Frauen küssen

wie unsere Hände ihre Wünsche entdecken

wie wir in sie eindringen

Doch nach ihrem Beben

oder wenn wir fertig sind

ziehen wir uns zurück

 

Ich kenne einen Mann

der sich davor fürchtet, allein zu bleiben

Nur weiß er nicht, wie man einander umarmt

Wenn seine Geliebte sich ihm nähert

umarmt er sie von hinten

und zieht eine Wand zu sich heran

um sich anzulehnen

 

 

Ahmad Katlesh: Das Gedächtnis der Finger. Gedichte

Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch. Edition Rugerup, Berlin 2020